Oliver Caraco

The Subject is the Void, the Hole in the Other

Wenn der Körper nicht Masse ist, wenn er nicht verschlossen ist, so ist er ausserhalb von sich. Er ist das Ausserhalb-von-sich-Sein. Jean-Luc Nancy

Bob Gramsmas Werk bildet Raum, gründet Ort, schafft Öffnungen. Graben ist das Mittel seines aktuellen Werkkörpers. In Form einer Grabung möchte ich einige Gedanken zu Graben und Loch und dem sich um diese Begriffe formierenden Sprachfeld vorstellen: ein vorerst blindes Vorstossen. Wir beginnen dunkel. Das Buch, wie Derrida meint, verstopft das Loch, das Loch der différance. Das a der différ-a-nce ist zu verstehen als Grabmal, als Pyramide über dem Grab, das den Tod, das Verlorene, das immer Abwesende verdeckt, verstellt, verfugt. Das enzyklopädische Wissen als Buch des Menschen verstopft das Offene. Die Spuren jener Schrift führen nicht zurück zum Ursprung, sie verfugen das Loch. «Das Zentrum war der Name eines Loches», «unbenennbarer grundloser Schacht». Derridas Projekt der Dekonstruktion ist sonach dem Loch verpflichtet, die Konstruktion eines Parasiten, der sich automatisch und unermüdlich durch dieses Wissen, durch die Bücher gräbt: «das Labyrinth als Dichter bewohnen und das Loch schreiben können». Abgrund der différance – «schwarze Sonne» – ewige Verschiedenheit und unendliche Unentschiedenheit – die Öffnung im Verschluss: graben ... Fragmente berichten, wie sich Thales am Anfang der Schrift, einer ganz bestimmten Schrift zumindest, in den Brunnenschacht setzte, um theoria zu betreiben.
Ein alter Mythos des ersten Künstlers, so erzählt uns Lacan mit Heidegger, handelt von einem Loch. Von demselben Loch. Vom Realen. Es handelt sich um das Loch in der Vase, da der erste Künstler ein Töpfer gewesen sei. Er schuf als erstes Werk eine Vase. Ihr Inneres, das Loch oder die Höhlung in ihr, erschien als präexistenter Raum: Es schien, als wäre dieses Loch, der von der Vase umschlossene Raum, schon vor der Vase da gewesen. Aber Lacan insistiert: Erst die Vase schuf diesen Raum, und genau so funktioniere die Kunst. Sie schaffe etwas, das den Anschein gibt, da wäre etwas an sich, etwas schon vor der Kunst Dagewesenes: Die Vase eröffnet die Herrschaft der Signifikanten. Diese Zeichen verweisen auf etwas, das nicht ist. Žižek meint dazu, auf Hegel referierend: Das Phänomen gibt vor, da sei etwas hinter dem Phänomen. Das ist aber Trug. Hinter dem Phänomen ist nichts, und dieses Nichts, das ist das Subjekt selbst: «The subject is the void, the hole in the Other.»
Gramsmas Arbeiten schaffen keine Vasen, keine Signifikanten, in gewisser Weise keine Werke der Anschauung: Sie verharren im Loch, öffnen Raum. Der Bildschein des Gemäldes, jene fensterartige Öffnung, gründete sich im Loch von Brunelleschis Tafel am Ort des vanishing point (Brunelleschi bohrte im Fluchtpunkt des ersten perspektivischen Bildes ein Loch, sodass von der Rückseite der Tafel her, durch das Loch blickend, auf einem Spiegel das Bild betrachtet werden konnte). Das Loch am Augpunkt und der Fluchtpunkt vis-à-vis, wo die Repräsentation im Unendlichen kollabiert, jenes Zentrum der europäischen Bildkunst, das ist die Leerstelle des Subjekts. Aus dem Loch exponieren sich Blick und Konstruktion. Es ist Eröffnung aus dem Nichts, die sich in diesem Punkt konzentriert, eingeschlossen von der Verfugung geometrischer Flächen. Diesen blinden Fleck bewohnen Gramsmas Arbeiten. Hierin bewegen, hieraus exponieren sie sich. Gramsma schafft in seinen Werken keine Vorhänge, keine Phänomene oder Trugbilder, sondern Löcher. Er schafft das eigentlich Unsichtbare, the void, das Differenzgeschehen, das das Subjekt je selbst ist. Er schafft Räume ohne Architektur. Etymologisch beruht «schaffen» auf «schöpfen».
Gramsma hat sich in die Vase des ersten Künstlers hineingesetzt: von innen, im Schacht, den Signifikanten um sich formierend und abschliessend. In der Öffnung hantierend, wird er selbst zur Öffnung. Das Differenzgeschehen ist er selbst, im Agieren durch seinen Leib. So wirkt die Arbeit a leap into paradise, OI#10135 wie ein Kokon. Hier hängt ein Nichts, ein Loch von der Decke: gespenstisches Anwesen des Abwesens. Mit Derrida liegt in der Figur des Gespenstes die Möglichkeit der Gegenwart des Nicht-Gegenwärtigen: der Un-fug. Jean-Luc Nancy meint, dass es uns zwar so erscheine, dass bei der Geburt ein Kind in eine Welt hineingeboren, in einen präexistenten Raum hineinkomme. Das sei aber unsere Sicht. Eigentlich sei es das Kind, das einen Raum in der Welt, seinen Raum in der Welt hervorbringt, «ein neues ‹Da› gibt»: «Der Raum, die Ausdehnung im Allgemeinen dehnt sich aus und öffnet sich.» Ein Körper, so Nancy, besteht darin, sich zu exponieren, bedeutet, exponiert zu sein: «Das ‹Da› selbst besteht nur aus Öffnung und Exposition.» Den Körper nennt er das «Offene», das ans «Abgeschlossene rührt», es «berührt», das «Offen» des «Schliessens», das «Unendliche des Endlichen». Der Körper, ein Tun und kein Sein, gräbt sich in die Welt. A leap into paradise, OI#10135 zeigt Spuren von Gramsmas Sprung, Grabungen ins Erdreich: Fuss- und Handabdrucke, Spuren von Kratzen, von Werkzeugen, Stemmen, Schlagen, Hacken etc. Spuren eines vorerst blinden In-der-Welt-Seins. Diese Spuren sind Zeugen von dem Nichts, von dem Niemand, das das Subjekt je ist. Das Subjekt ist nicht: Das Subjekt tut. Da-Sein ist Verstehen als Zu-tun-Verstehen (Heidegger): Dynamis, Kraft, Vermögen, Potenzialität, blosses Möglichsein der Tat. Der Ist-Zustand, die Spur, als die sich dieses ursprüngliche Werkgeschehen im «Kokon» sedimentiert hat, ist nachträglich. Kunst, jenes zweckfreie Geschehnis, schafft Löcher in der Wirklichkeit. «Kunst ist der Ort, an dem die Subjektivität des Subjekts, sein irreduktibles, aber leeres Reales, gefunden und wieder begründet werden kann.» «Raum ‹Zwischen zwei Toden›, aus dem heraus jeder Widerstand, jede Schöpfung, jede neue symbolische Form hervortreten muss» (Ensslin). «Zwischen zwei Toden» ist eine Metapher Lacans für das Reale, jenes Loch, das hier thematisch ist: weder tote Materie noch unsterbliche Seele, sondern lebendiges Leben, das, ohne körperlose Seele zu sein, immer als Öffnung in lebloser Materie aufscheint. Die Spur kann in ihrer Anwesenheit diese Potenzialität nicht einholen. Die Architektur der Spur verfugt den dunklen Riss nur. «Schöpfen» heisst eintauchen. In der Raumwerdung dieser Potenzialität, in Gramsmas neueren Arbeiten, sprengt sich dynamis in die Anwesenheit hinein. Ek-sistieren heisst In-sistieren: Heraustreten gründet im Eröffnen. «Vielleicht gibt es niemals eine Öffnung ohne ein Anrühren [un toucher] oder eine Berührung [une touche]» (Nancy). Die Spur der Ackerfurche, die den menschlichen Raum begründet, verweist in die dunkle Öffnung, aus der Seiendes entspriesst.
Lucio Fontana hatte in die Leinwand hineingeschnitten. Die Raum-Illusion ist zerstört, der imaginierte Fensterraum des Tafelbildes zu gegenständlichem Raum, das Bild zum Objekt transformiert. Gramsmas Arbeiten cut, OI#13182–191, die auf Fontana anzuspielen scheinen, zeigen nicht den destruktiven Schnitt, sondern das konstruktive Schneiden. Die Exponierung des Aktes, das Tun selbst, ist verkörpert. Dieser Körper ist nicht Spur wie der Schnitt in Fontanas Leinwand. Der Werk-Körper ist Hohlraum, das Dunkel, in das wir uns als Lichtung je hineinbewegen: sich exponierende Potenzialität, die uns unsichtbar je umschliesst. Gramsmas neuer Werkkörper ist diese uns umgebende «dunkle Materie», Raum potenzieller Öffnungen. Darin drückt sich etwas aus: Der Mensch in seiner Potenzialität ist nicht Tabula rasa. Das Tun wie das Denken sind nicht im lichten Horizont begriffen, wo sie sich frei in alle Richtungen bewegen könnten. Der Mensch grübelt. So hat Gramsma mit nimbus, OI#11155 auch den «Raum über seinem Kopf» gegraben. Der Mensch gräbt sich in die Welt hinein und hinterlässt Spuren, labyrinthische Stollen. Gramsmas neuer Werkzyklus zeigt, dass wir das Loch sind, dessen Nichts wir je mit uns mittragen und exponieren. Der Grund, in den er sich gräbt, bestimmt die Form, das Volumen und die Ausdehnung des Lochs – seine Gestalt. Historische und materielle Wirklichkeit, Erinnerungsknäuel und -schichten, spektakuläre Oberflächen sind Spur und Stoff, in den die Potenzialität des Lebendigen stets eingegraben ist. Doch wir sind keine Spur. Entwurf, Herstellen und Herausstellen, Produktion sind demnach nicht freie Kreation, sondern Graben. Jede Bewegung, auch des Denkens, exponiert sich als diese «dunkle Materie», aus der Gramsmas Arbeiten bestehen. Gramsmas installierte Werke werden so zu Minenschächten einer anderen Dimension: zu Wurmlöchern. Wohnraum (home, OI#11159), Energienetz (power point, OI#10130), Spielplatz (garage, OI#13171) oder Kommunikationsraum (utility pole, OI#13176–180) zeigen sich als eine Form der Insistenz: rhizomatische Schächte jenes ursprünglichen Grabens, womit der Mensch je seine Furchen ins Seiende schürft. Gramsmas Arbeiten zeigen kein Ist, sondern ein Werden. Ein Werden freilich, das sich ins Ist hineingräbt.

Die hier massgeblich referierten Texte sind: Jacques Derrida, Ellipse; Jacques Derrida, Marx' Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale; Jacques Lacan, Die Ethik der Psychoanalyse; Slavoj Žižek, The sublime Object of Ideology; Martin Heidegger, Sein und Zeit; Jean-Luc Nancy, Corpus; Felix Ensslin, Zwischen zwei Toden: Vom Spiel zur Wiederholung.

Dieser Text wurde erstmals publiziert in: Bob Gramsma, IN – Works 931–14209 (Zürich, 2014)