Salome Hohl und Linda Lämmle

Der Fisch kennt Wasser nicht

Raum wird nur in seinen Begrenzungen wahrgenommen: als Bühne des Geschehens – wenn er doch eigentlich ein Geschehen für sich ist. Und auch wenn wir um diese physische Materie wissen, die Bewegliches wie Statisches einbettet und sich hierfür krümmt oder wellt: Raum bleibt eine abstrakte Leere, der Fisch kennt Wasser nicht. Nur durch Grenzziehung vermag sich der Mensch zu orientieren, er zergliedert den Raum und schafft so Orte. Diese Trennlinien wandeln sich im erweiterten Raumverständnis zu komplexen Relationsverhältnissen. Raum entsteht überall dort, wo Subjekt oder Objekt auf die Umgebung trifft, und im Ort wird der Raum festgemacht. Bob Gramsmas Œuvre ist durchdrungen von solchen Ansätzen. Methodisch löst der Künstler Raumkonglomerate aus ihrem gewohnten Referenzrahmen und zeigt sie als Objektinstallationen (OI) in einem neuen Kontext. Er schafft so Gegenüberstellungen, die erweiterte Wahrnehmungsfelder eröffnen.
Auch in a set of surfaces around a void, OI#9523 wird Raum im Ort erfahrbar gemacht. In Auseinandersetzung mit der Installation werden die Betrachterinnen und Betrachter zu Besucherinnen und Besuchern einer verschobenen Realität. Das Setting verwundert: Unter einer Plexiglasscheibe an der Wasseroberfläche öffnet sich das Objekt dem Blick. Die Betrachtenden erkennen einen Raum, der von Betonwänden eingeschlossen ist. Im Innern windet sich eine Treppe in die Tiefe, und sofort möchte man wissen: Wohin führt sie? Welche Realitäten verbindet sie? A set of surfaces around a void, OI#9523 bietet keine Erklärungen an, die Installation bleibt partiell unsichtbar. Lediglich Umrisse der oberen Begrenzungen und beschnittene Ansichten des Innenraums, der architektonische Funktion vortäuscht, sind sichtbar. Während die Betrachtenden eine plausible Erklärung für die aussergewöhnliche Erscheinung suchen, setzt die reale Befragung des Raumes ein: Das Werk ist dem Wasser ein substanzieller Gegenraum, der sich bezüglich Dichte und Aggregatszustand unterscheidet; trotzdem geht das Objekt weder unter noch schwimmt es auf. Ein labiles Gleichgewicht schafft ein Nebeneinander von flüssiger, gasförmiger sowie fester Masse. Durch die Verschiebung ins Wasser wird der gasförmige Innenraum der Installation erst in seiner Materialität fassbar – als dynamische Substanz. Raum nimmt nun Gestalt an und transformiert sich zur vielschichtigen Denkfigur. Die transparente Oberfläche enthüllt Grundriss, Volumen und Relationen, die Hierarchien und Konnotationen offenlegen. Dies führt zur Hinterfragung von Strukturen, die den Menschen sowie die Umgebung ordnen und kennzeichnen. Das Werk impliziert, wie verflochten natürliche und kultivierte Räume sind: Soziale, technische und physische Gegebenheiten, deren Grenzen sich im postmodernen Raumverständnis zunehmend auflösen und in neue Beziehungen treten, greifen ineinander. Gleichermassen wie a set of surfaces around a void, OI#9523 zur kognitiven Spielerei anregt, wird das Werk zur Durchgangszone, die direkt in den Erfahrungsraum der Besucherinnen und Besucher führt. Das Objekt wirkt vertraut, weil es an einen alltäglichen Treppenraum erinnert. Im Hafeneingang auf dem Ijsselmeer schwimmend, erscheint es in einem völlig neuen Kontext, der einen verfremdenden Effekt hervorruft. Diese Kombination von Vertrautem und Surrealem bildet den Nährboden für fantastische Assoziationen: Der Treppenraum wird zum magischen Ort des Durchgangs, der ins Unbekannte führt oder Fremdes aufsteigen lässt. Ausgangspunkt ist aber immer das Erlebte, das mit dem eigenen Körper erschlossen wurde und sich hier im neuen Kontext versuchen kann.
Vanishing point, OI#10151 (dt. Fluchtpunkt) lädt ebenso zur körperlichen und geistigen Bezugnahme ein. Gramsma löst das Hilfskonstrukt der perspektivischen Darstellung aus seiner Zweidimensionalität heraus und zeigt es als materialisierten Körper. Die Fluchtlinien leiten in der flächigen Abbildung auf den entlegensten Punkt, der eindimensional bleibt. Gramsmas schwarze Kugel hingegen öffnet das Blickfeld für den gesamten Raum; je nach Position der Betrachtenden ordnet vanishing point, OI#10151 den Raum und die darin enthaltenen Objekte neu. Ein wechselwirkender Dialog entsteht, wodurch sich die Beziehung zu den anderen Werken und der Umgebung stetig verändert. Im Gegensatz zum schwarzen Loch, an welches das Objekt erinnert, wird der Erlebnishorizont nicht geschluckt, sondern auf den gesamten Ausstellungsbereich projiziert. Zudem verweist die ausgeprägte Oberflächenstruktur auf das Objekt selbst: Erhebungen und Einbuchtungen zeugen von der Produktion und bringen Räume hervor. Die Unebenheit des Objekts lenkt die Aufmerksamkeit auf den Künstlerduktus sowie die Materialität des Werkes. In Gramsmas Objektinstallationen lassen sich meist Spuren finden, die einerseits auf die Modi der Raumbefragung, andererseits auf die Materialbearbeitung des Künstlers hinweisen.

Eine Vielfalt an theoretischen und intuitiven Ansätzen verleihen Gramsmas Arbeiten eine einnehmende und zugleich konfrontative Wirkung. So konkret und massiv sie auch anmuten: Sie sind subversive und subtile Verweise auf Zwischenzonen, die eigentlich Hauptgeschehen sind. Gramsma artikuliert die vermeintliche Leere, wenn er die uns umgebende Materie als Ort sichtbar macht. Er benennt das Namenlose, das zu selbstverständlich ist, um überhaupt wahrgenommen zu werden. Es ist diese Begegnung mit scheinbar banalen Objekten und Handlungen – im neuen Zusammenhang exponiert –, die eine simple Tatsache zeigt: Der Fisch ist im Wasser. Und das Geschehen durchlässig.

Dieser Text wurde erstmals publiziert in: Bob Gramsma, IN – Works 931–14209 (Zürich, 2014)