Hans Rudolf Reust

Gänge aus dem Raum im Raum

Einstieg: Eine längere Treppe führt hinunter in die feuchtdunklen Gewölbe der Kellergalerie. Dort öffnet sich der Blick auf einen verzinkten, in sich verschachtelten Lüftungskanal, der am Ende des Raumes in einen zugemauerten Torbogen mündet, wo nur ein Ventilator in der Wand noch den verborgenen Raum dahinter erahnen lässt. Am Fuß der Treppe liegt der Einlass in den von Neonröhren spärlich erhellten Gang. Wer eingestiegen ist, windet sich gebückt an den blanken Metallwänden entlang, gelangt am Ende zu einer im Finstern rot glimmenden Herdplatte - das Schwarzkörperleuchten: Ein Festkörper verstrahlt in Licht, ohne sich in seiner metallenen Härte aufzulösen. Leuchtend bleibt er ein festes Ding im Raum im Raum.

Technomorphe Grotten / Split-View: Schächte, Quergänge, Kabinen und Kojen, Interfaces, Felder und Plätze - ein Unterschlupf, ein Durchschlupf, Passagen, der Ausstieg: Allein diese Reihe uralter und jüngster Worte - bloßes Rohmaterial für eine Beschreibung - evoziert schon die Atmosphärenwechsel, die sich mit den Raumkonglomeraten Bob Gramsmas verbinden. Technomorphe Strukturen eröffnen Zwischenräume, schaffen Nebenzellen und Übergänge zwischen Welten, welche statisch bleiben, selbst wenn sie häufig aus den Innenräumen von Gefährten entwickelt sind. Auf den Wegen, die in den komplexen Raumfolgen eingerichtet werden, teilt sich der Blick mehrfach zwischen unerwarteten Einsichten, Aufsichten, Durchblicken. Obwohl die erste Begegnung mit diesen Räumen meistens als überraschende Konfrontation, frontal geschieht, bleibt beim Verlassen der Struktur kein kohärentes Bild. Es geht auch nicht um die filmische Erfahrung von Sequenzen; eher sind es mentale Collagen von realen Ansichten, Traumbildern und Bruchstücken aus der Erinnerung, die sich unvermittelt ins Sichtbare einschieben und eine stetig wachsende Desorientierung auslösen. Die nachvollziehbare Verbindung aller Bauteile, die kein Geheimnis birgt, schafft nicht länger Zusammenhänge von Bedeutungen. Wo sich die Gesetze der Statik deutlich zeigen, werden die Regeln der Verknüpfung von Assoziationen freigesetzt, nicht in die schiere Unverbindlichkeit, sondern in die Erfahrung abweichender Denkmodelle auf Zeit.

Der Bau: Franz Kafkas Erzählung Der Bau (1923/24) handelt von einer tierischen Höhle im Wald und ist insofern nicht mit Gramsmas technoiden Konstruktionen untertage in urbanen Zonen zu verbinden. Allein in der Art, wie die Wahrnehmung ständig zwischen unmittelbar taktilen Empfindungen, Sehen, Lauschen und Ahnen wechselt, könnte die Geschichte auch in Gramsmas Gangsystemen spielen: »Geh ich nur in der Richtung zum Ausgang, sei ich auch noch durch Gänge und Plätze von ihm getrennt, glaube ich schon in die Atmosphäre einer großen Gefahr zu geraten, mir ist manchmal, als verdünne sich mein Fell, als könnte ich bald mit bloßem, kahlem Fleisch dastehen und in diesem Augenblick vom Geheul meiner Feinde begrüsst werden. Gewiss, solche Gefühle bringt schon an und für sich der Ausgang selbst hervor, das Aufhören des häuslichen Schutzes, aber es ist doch auch dieser Eingangsbau, der mich besonders quält. Manchmal träume ich, ich hätte ihn umgebaut, ganz und gar geändert, schnell, mit Riesenkräften in einer Nacht, von niemandem bemerkt, und nun sei er uneinnehmbar; der Schlaf, in dem mir das geschieht, ist der süsseste von allen, Tränen der Freude und der Erlösung glitzern noch an meinem Bart, wenn ich erwache. Die Pein dieses Labyrinths muss ich also auch körperlich überwinden, wenn ich ausgehe, und es ist mir ärgerlich und rührend zugleich, wenn ich mich manchmal in meinem eigenen Gebilde für einen Augenblick verirre und das Werk sich also noch immer anzustrengen scheint, mir, dessen Urteil schon längst feststeht, doch noch seine Existenzberechtigung zu beweisen. Dann aber bin ich unter der Moosdecke, der ich manchmal Zeit lasse - so lange rühre ich mich nicht aus dem Hause -, mit dem übrigen Waldboden zusammenzuwachsen, und nun ist nur noch ein Ruck des Kopfes nötig und ich bin in der Fremde«.

Anonym: Bob Gramsma verzichtet in seinen Konstruktionen bewusst auf die Möglichkeit interaktiver Manipulation und konzentriert sich auf die Bewegungen der Betrachtenden, wie sie um, zwischen und durch ein skulpturales Ensemble geschehen. Wir sind weit weg von den epischen Welten Matthew Barneys oder dem hirnschalenartig verschachtelten Wohnhaus von Hannelore Reuen, wie es Gregor Schneider immer wieder auf- und umbaut, auch von Mark Manders Selfportrait as a Building. Gramsma verzichtet auf ausgeprägte Subjektivität, ohne das homogen süsslich und unspezifisch verführende Party-Lounge-Ambiente der dienstbaren Kunst aus den neunziger Jahren weiterzuführen. Seine gebauten Bilder prägen sich ein, weil sie in einer seltenen Zwischenwelt von technoider Neutralität und anonymer Verfremdung die persönlichen Vorstellungen der Betrachtenden wachrufen.
Seine Räume sind keine Erfindungen, keine Fantasmen, eher aus dem Alltag durchaus vertraute Realitäten, die sich unter einem noch unerforschten Blickwinkel neu zeigen.

Weltenkollision: Durch die Ausbreitung der mobilen Kommunikation leben wir ständig in mindestens zwei Welten: da, jetzt und potentiell überall, in den uns gegenwärtig umgebenden Räumen drin und draussen. Wände sind porös. Unsere Erfahrung von Wirklichkeit wird zunehmend gespalten. Der euklidische Raum bietet unserem Körper nur noch einen unter mehreren möglichen Parametern der Orientierung. Akustisch, auch optisch, könnten wir jederzeit zugleich anderswo sein. Traumzustände und Gedanken kannten diese Freiheit immer schon. Nun wird sie durch technische Prothesen in eine stets perfektere, illusionistische Nähe zu den Erfahrungen unserer Sinne gebracht, als wäre sie Teil einer umfassenden Wahrnehmung der Wirklichkeit. Bob Gramsma arbeitet in seinen Bauten mit dem räumlichen Einzug von Distanzen und Differenzen zwischen Welten, gesteigert bis zur Kollision und zum Kollaps von Bedeutungen: Durch einen Vorraum, vielleicht eine private Küche, vielleicht ein Gewächshaus, werden wir an der engsten Stelle der Toiletten den weiten, leeren Passagierraum eines Linienjets betreten: Keine Sitze, kein Licht, nur der Schein der Beleuchtung, welcher durch die runden Bordfenster vom Ausstellungsraum her einfällt. Während sich der Blick in der vertrauten Flucht eines Kabinenraums ergehen möchte, prallt er am Ende des kurzen Rumpfteils überraschend auf eine dritte Seitenwand. Gefangen in dieser unerwarteten Wendung des Raums, beginnt der Flug der Gedanken. Mit Bob Gramsmas traumverwandten Kollisionen von Räumen werden die Grenzen des euklidischen Raumes fließend, obwohl sie klar konturiert bleiben. Der Boden bleibt unverrückbarer Bezugspunkt der Schwerkraft und gerät nicht, wie beim Wellenreiten, selber in Bewegung. Und doch kann sich zwischen den statischen Welten dieser Binnenskulpturen zuweilen etwas einstellen wie »the flow«: das Ineinanderfließen von Wahrnehmungsbewegungen und festem Raum, eine unausgesetzte Flugbewegung, der nie enden wollende freie Fall mit flatterndem Mantel im Himmelsfenster der Videoprojektion an der Decke. Bob Gramsma lädt ein in reale Räume, um hinauszuführen aus dem Raum. Klänge und Geräusche sind dabei ein wichtiges Element der Verführung, Entführung und Brechung zugleich. Wenn im Autoradio die Außenwelt einbricht, verschließt sich das Autoinnere untertage noch stärker der Stelle neben dem Museum, an der es eingegraben liegt. Bei aller Größe, welche Gramsmas Gebilde annehmen können, bleiben ihre Dimensionen nur schwer fassbar. Monumentalität und Intimität sind nicht zu trennen, denn letztlich wird am gegebenen Ort stets nur eine Spur gelegt, einer Zeichnung in räumlicher Ausdehnung verwandt. Am Ende dieser Spur findet sich eine Umwertung beim Erkennen, so wie Gramsma vom Mittelmeer als Piazza spricht, als ein sichtbares und doch der Vorstellung sich entziehendes Feld sozialer Beziehungen, Begegnungen. Vom Dach der Villa Malaparte möchte er auf diese verbindende Ebene hinabschauen, an die zahllosen anderen Häuser rund um die Piazza und ihre Bewohnerinnen und Bewohner denken.

Ausstieg: Die lange Rolltreppe lässt uns ruhig hinabgleiten in den Untergrund, Richtung Subway und Orkus, ins Schattenreich der Toten. Unten angelangt, nimmt uns ein in der Horizontalen ausgedehnter Liftschacht auf. Ohne Fahrt, nach verhallenden Schritten, öffnet sich dieser Quergang am Ende zur Decke hin, in einen Treppenturm, der zum Wiederaufstieg unter den freien Himmel zwingt, nur um anzukommen im Innern eines Vans, der auf einem der zahllosen Parkplätze in L.A. abgestellt wurde. Auch in diesem noch unausgeführten Projekt verbindet Gramsma Oberund Unterwelt, Gleiten und Gehen, Steigen, Stehen und den für Augenblicke stillgestellten Traum von der ungebundenen Fahrt. Paul Virilio hat darauf hingewiesen, dass das letzte Fahrzeug statisch sein werde: Immobil vor dem Bildschirm oder im Datenanzug werden wir die Universen der Zukunft durchkreuzen. Aber mit dem Erwachen im Van auf dem Parkplatz wird stets auch die knappe schockartige Frage verbunden sein: Wo ist der Ausgang? Es gibt keinen Ausstieg aus Gramsmas Welten, weil sich das Überraschende, Fremde vorzüglich im Vertrauten ereignet, dort, wo der Verstand sich noch sicher glaubt.

Dieser Text wurde erstmals publiziert in: Bob Gramsma (Nürnberg, 2003)