Philip Ursprung

Notes on the Underground

Zu den schönsten Ausstellungen in der aufblühenden Zürcher Kunstszene gehörte für mich in den 1990er-Jahren die Ausstellung A Night at the Show (1995), kuratiert von Harm Lux. Im kurzlebigen Fields, einem ehemaligen Fabrikraum, arbeiteten eine Reihe der interessantesten Künstlerinnen und Künstler jener Jahre zusammen. Sie intervenierten auf, um und unter einer riesigen Bühne, die fast den ganzen Raum einnahm und wo während der kurzen Dauer der Ausstellung jeden Abend Performances, vaudevillartige Darbietungen und Lesungen aufgeführt wurden. Die Grenzen zwischen bildender Kunst, darstellender Kunst und der damals anhebenden Event-Kultur von privat lancierten Bars verschwammen zu einem atmosphärischen Ambiente, das jene regionale Kunstszene prägte, die bald international als «Swiss wonder» bekannt werden sollte.

Ich habe viele Stunden in dieser Ausstellung verbracht. In Erinnerung geblieben sind mir vor allem die Wege, die ich zurücklegte. Unter der Bühne befand sich ein kompliziertes System von Gängen und Kammern, durch welche die Besucherinnen und Besucher sich in gebückter Haltung bewegen konnten. Einige der Kammern waren von Kunstschaffenden besetzt worden. In einer wuchs Gras. Und an einigen Stellen war es möglich, einen Blick auf das Geschehen auf der Bühne zu werfen. Manche Performerinnen und Performer nutzten diese Luken für ihre Auftritte. Aber manchmal standen auch Zuschauerinnen und Zuschauer darin und befanden sich unmittelbar vor den Performenden. Sie konnten sich auf dem Bühnenboden aufstützen und sie aus nächste Nähe und aus der Froschperspektive sehen - so wie sonst Souffleure ihre Schauspielerinnen sehen oder Mechaniker die Unterböden von Autos.

Bob Gramsma war der Autor dieses, wie er es nennt, «Stollensystems» sowie der «klammerartigen Öffnungen». A Night at the Show war eine seiner ersten Ausstellungsbeteiligungen. Das Motiv des Stollens oder Tunnels einerseits, der offenen Plattform andererseits, zieht sich seither durch sein ganzes Werk. Immer wieder führt er die Besucherinnen und Besucher verwinkelten Wegen entlang in dunkle, röhrenartige Räume, um sie dann unvermittelt mit einem effektvollen Kontrast, einem Bild oder einer Aussicht zu belohnen. Oder er führt sie über eine Plattform, von der aus sich plötzlich Wege nach unten öffnen. Stets erfährt man die Kunstwerke als Ablauf einer Handlung, an der man selber performativ Teil hat. Stets hat man den Eindruck, die Dinge von den Rändern her wahrzunehmen, das heisst einen Blick hinter die Kulissen und in die Infrastrukturen werfen zu können.

Während Gramsma die Betrachterinnen und Betrachter physisch involviert und den Ablauf einer Bewegung vorgibt, während also die Kunstwerke eine narrative Struktur haben und gleichsam vor und mit den Betrachtenden ablaufen, gibt es keinen Plot wie in einer klassischen Performance. Die Titel, die er wählt, geben nicht die Richtung an, sondern höchstens einen Rhythmus. Sie sind letztlich nichts anderes als nummerierte und datierte Kürzel für «Objektinstallation», «Videoinstallation» und «Fotografie». Interessant ist, dass sie oft mit einem Gedankenstrich und einem Komma anheben, so als ob jemand einen Moment lang zögerte und nach einem Wort suchen müsste, das ihm auf der Zunge liegt. Im Fall von A Night at the Show lauten sie beispielsweise -, OI#9525 für die Bühne mit den Stollen und (...), OI#9524 für die Öffnungen. Sie funktionieren wie die mysteriösen Markierungen, die einem auf Tafeln im Innern der Tunnels, beim Blick aus dem Fenster auf Flugzeugflügel oder auf Landkarten begegnen. Mit anderen Worten, sie fungieren als Angaben, die der Orientierung dienen, die aber offensichtlich für Spezialistinnen und Spezialisten gedacht sind und erst als System einen Sinn ergeben. Sie suggerieren, dass die einzelnen Passagen in Gramsmas Werk ihrerseits miteinander verbunden sind und dass wir es jeweils mit Fragmenten eines grösseren Unternehmens zu tun haben.

Gibt es bei Gramsma ein solches System? Kennt Gramsma den Plan? Lässt uns der Künstler absichtlich im Dunkeln tappen, um uns eines Tages den richtigen Weg zu zeigen? Ich denke nicht. Denn wie alle, die in den 1970er-Jahren, dem Jahrzehnt der «Tausend Plateaux» aufgewachsen sind, will Gramsma Bedeutung nicht fixieren, sondern offenhalten. Zweifellos schätzt er Filme wie Stanley Kubricks 2001: A Space Odyssey (1968), etwa die Szene mit dem winzigen Kontrollraum in der Landezone, die das Andocken des Shuttles überwacht - eine Szene, die wahrscheinlich ihrerseits Brian O'Doherty zu seinem Text Inside the White Cube (1976) inspirierte. Gewiss war er fasziniert von Clemens Klopfensteins Geschichte der Nacht (1979), jenem grobkörnigen Schwarzweissfilm einer scheinbar endlosen nächtlichen Autofahrt durch die Städte Europas. Und sicherlich ist er geprägt worden von den Szenen in Ridley Scotts Bladerunner (1982), in welchen Harrison Ford sich in der ruinösen Architektur eines Gründerzeitbaus vor dem Replikanten in Sicherheit zu bringen sucht. Und vielleicht kennt er Thomas Pynchons Roman Gravity's Rainbow (1973), den Schlüsselroman der postmodernistischen Literatur, der in den dunklen Ruinen, Bunkern und Höhlensystemen im Osten Deutschlands in den Wirren nach dem Zweiten Weltkrieg spielt.

Ich nehme auch an, dass er das Werk von Künstlern wie Gordon Matta-Clark schätzt, dessen Erkundungen durch die verlassenen U-Bahnsysteme und Wasserkanäle unter Manhattan - beispielsweise im Film Substrait (Underground Dailies) (1976) - Gramsmas eigenen Expeditionen durchaus entsprechen. Die Bezüge zu Bruce Naumans Installationen der 1970er-Jahre liegen auf der Hand: Gramsmas Installation 154 inch finger-scape, OI#0169, in seinen Worten der «Polyesterabguss von der Spur der Fingerspitze Gramsmas in nassem Ton», ist offensichtlich eine Anspielung an die Titel von Bruce Nauman.

Gramsma führt uns keine Antworten vor, sondern inszeniert vielmehr in immer neuen Variationen das Dispositiv, in dem Bedeutung konstituiert wird, sich aber nicht definieren und fixieren lässt. In -, OI#9843 beispielsweise stehen drei Lampen unmittelbar vor einer Wand und beleuchten diese. Die Lampen könnten aus einer archäologischen Grabungskampagne stammen oder zu einem Fotostudio gehören. Sie erlauben es, einen Gegenstand, beispielsweise ein Stück Wand, ganz genau zu betrachten. Nur strahlen sie das Stück Wand derart grell an, dass die Augen geblendet sind und gar nichts mehr wahrnehmen. Es braucht zwar Licht, um die Dinge zu sehen, aber dieses Licht ist zugleich eine Projektion, die sie überlagert und zum Verschwinden bringt.

In Gramsmas Händen ist Licht nicht bloss ein skulpturales Material, um atmosphärische Wirkung zu erzeugen. Es funktioniert stets auch metaphorisch als Zeichen von «Entdeckung», «Erkenntnis» oder «Einsicht». Wichtig scheint mir namentlich zu sein, dass Gramsma immer die Begrenzung des beleuchteten Feldes betont. Es scheint dabei keine hierarchische Unterscheidung zwischen einer Projektion von Licht und einer Projektion eines Videofilms zu geben. Es geht ihm nicht darum, die Möglichkeiten des «neuen Mediums» zu reflektieren oder zu zelebrieren, sondern vielmehr darum, dessen Grenzen zu artikulieren. Dass er dabei zugleich ein mächtiges Instrument in Händen hat, zeigt am deutlichsten seine Kunst-und-Bau-Installation -, PD#0382 in Magglingen, wo er es gleichsam mit der gesamten Jurakette aufnimmt, wenn er den hinter dem Hotel durch die Bauarbeiten sichtbar gewordenen Fels aufleuchten lässt.

Gramsmas Installation in Magglingen scheint mir auch seine Auseinandersetzung mit dem Thema Untergrund auf den Punkt zu bringen. Aber warum wählt er als Ort seiner Installationen mit Vorliebe den Untergrund? Dies mag einerseits mit einer Affinität für das - im wörtlichen Sinne - Subversive zusammenhängen. Es ist aber möglicherweise auch eine Reaktion auf die Überfülle an Licht, Harmonie und Technikeuphorie, welche die aktuelle Kunstszene prägt, und deren komplementäre Seite, die Konjunktur des Unheimlichen, Magischen und Abjekten. Denn auch wenn sich Gramsmas Installationen auf den ersten Blick gut ins Lager des «Gothic» einordnen lassen, passen seine Ironie und Skepsis nicht dazu. In seinen besten Kunstwerken öffnet Gramsma für Momente denn auch den Blick auf Abgründe, die in der Kunstszene sonst meistens ausgeblendet sind. «Tiefe» und «Distanz» gehören ja, wie Frederic Jameson in seinem Buch Postmodernism, or, The Cultural Logic of Late Capitalism (1991) zeigt, zu den fragilsten, problematischsten Kategorien der Postmoderne. Jameson geht in diesem Buch davon aus, dass sich die Sphäre der Kultur explosionsartig ausdehnt und alle Bereiche des Lebens wie eine feine Schicht überzieht - um den Preis ihrer einstigen Autonomie. Laut Jameson heisst dies, dass traditionelle Vorstellungen von räumlicher Tiefe, wie sie etwa in der Psychoanalyse oder der Hermeneutik vorherrschen, nicht mehr haltbar sind, und dass Ideen wie die «kritische Distanz», die «Reflexion» oder der «Ausdruck» nicht mehr greifen, weil alles sich auf einer dynamischen Oberfläche abspielt. Postmoderne ist für Jameson unter anderem dadurch charakterisiert, dass das zeitliche Nacheinander einem räumlichen Nebeneinander weicht. Gramsma behauptet nicht, dass er sich dieser veränderten Räumlichkeit entziehen, aus dieser Logik der Oberfläche oder dieser Tyrannei des Gegenwärtigen entkommen könnte oder möchte. Seine «Tiefen» sind ja, ebenso wie seine Plattformen, offensichtlich künstlich hergestellt. Sie wirken bewusst grob zusammengefügt, so als könnten sie wieder demontiert und anders auf- und umgebaut werden. Aber sie zelebrieren die Oberfläche nicht. Sie machen deutlich, dass hier ein Künstler am Werk ist, der an die Veränderbarkeit der Dinge glaubt, der sich ein «Dahinter» und «Darunter» vorstellen kann und der davon ausgeht, dass es sich lohnt, die Zugänge immer neu zu erkunden.

Der Titel dieses Textes bezieht sich auf die Publikation Notes on the Underground (Cambridge, Mass., 1990) von Rosalind Williams, ein Buch über die Kulturgeschichte des Tunnels. Der Buchtitel ist eine Referenz an Dostojewskis Aufzeichnungen aus dem Untergrund.

Dieser Text wurde erstmals publiziert in: Bob Gramsma, Works 2003 (Zürich, 2004) und erscheint als Nachgedruckt in: Bob Gramsma, IN - Works 931-14209 (Zürich, 2014).